2012
Konrad Tobler
Das eine ergibt das andere
line-up, Galerie Wenger, Zürich

Das eine ergibt das andere

Zur maximalen Minimalität im Werk von Daniel Göttin
Konrad Tobler


I. Um gleich ein Missverständnis auszuräumen: Die Kunst von Daniel Göttin folgt keiner Reduktion. Und das gilt sowohl materiell als auch konzeptionell. Würden die Werke einer Reduktion folgen, bestünden sie zuerst aus einem Mehr, das dann – etwa nach den Gesetzen der noch unmodellierten Plastik – nach und nach weggearbeitet würde. Die Arbeit bestünde darin, eine Idee herauszuschälen, die im Kern bereits vorhanden, aber noch nicht sichtbar wäre. Um dieses Missverständnis der Reduktion zu zerstreuen, verweist der Künstler gerne auf einen Gedankengang des Schweizer Schriftsteller-Philosophen Ludwig Hohl:

„Das menschliche Arbeiten, das weltverändernde Wirken, vollzieht sich in drei Stufen. Diese sind: Die grosse Idee – die (der grossen Idee entsprechenden) Einzelvorstellungen; anders gesagt: die Applizierung der grossen Idee, ihre Auflösung in kleine Ideen, Ideen des Einzelnen; – die (den Einzelvorstellungen entsprechenden) Einzelausführungen.
Kurz gesagt: Die grosse Idee, die kleinen Ideen, die kleinen Taten. Und leider bleiben die meisten Menschen stets auf der ersten der drei Stufen stehen; bleiben stehen bei der grossen Idee oder ihr gegenüber auf einer Art Aussichtspunkt; die Sache bekommt dann die Farbe und den Rang des ‚Idealismus‘, der Phantasterei …

– Diese drei Stufen sollen das Ganze des menschlichen Handelns bilden? Sie bilden das Ganze, sie sind alles. – Wo bleibt denn die grosse Tat?
Folgt dann die grosse Tat etwa von selber? Nein. Sie ist schon geschehen.
Noch einmal: Die grosse Idee, die kleinen Ideen, die kleinen Taten, und keine vierte Stufe, nichts anderes mehr.
(Du habest die grosse Idee, dein Leben zu ändern [und haben nicht die meisten sie?]; so lass die grosse Idee zerfallen in die ihr entsprechenden Teil-Auffassungen [wie viele gelangen so weit?]; tue diese einzelnen Dinge [Iangsam, im Masse deiner Möglichkeiten, deiner Krafte nur, eins nach dem andern]: Dein Leben ist geändert.“ [1]

II. Wenn also dem Werk von Daniel Göttin eine grosse Idee inhärent ist, dann liesse sich diese in einer kurzen Maxime formulieren: Setze die minimalsten Mittel ein, um jene Wirkung zu erzielen, die sich während der Arbeit selbst entwickelt. [2] So liesse sich die Entstehung eines Werkes, freilich überspitzt, auch vergleichen mit dem spielenden Kind, das Bauklötze aufeinandertürmt, ohne vorher genau zu wissen, was denn entstehen soll, während des Spiels aber gewisse (statische) Gesetzmässigkeiten entdeckt, die die weiteren Schritte mitbestimmen. Wenn Daniel Göttin seine Netzwerke entwickelt, dann ohne vorherigen Plan; Schritt für Schritt werden die Linien geklebt, die Leerräume entstehen; ein Richtungswechsel erfolgt etwa in der Art, wie man in einer noch unbekannten Stadt herumschlendert und sich kurzfristig entschliesst, in diese oder jene Strasse einzubiegen, noch ohne zu wissen, wohin sie führt und wie der Weg weitergehen wird.

So ist die Kunst von Daniel Göttin eine ganz und gar pragmatische, ja im Kern eine materialistische – und zwar sowohl im philosophischen Sinn als auch deswegen, weil das Material im Zentrum steht. Immer sind es einfache, geradezu krude Materialien. Dabei ist Wellkarton Wellkarton, Klebeband ist Klebeband, Farbe ist Farbe, Aluminium ist Aluminium – und wenn es darum geht, Grösse und Form eines maschinell gefalteten Aluminiumkörpers zu bestimmen, dann ergibt sich das aus den technischen Möglichkeiten der Maschine und nicht aus einer Idealvorstellung des Künstlers. Fern wäre es diesem also, mit seinem Werk irgendwelche programmatischen oder utopischen Botschaften vermitteln zu wollen, wie das beispielsweise Kasimir Malewitsch [3] oder die Zürcher Konkreten, insbesondere Richard Paul Lohse, intendierten.

Wenn es eine Botschaft gibt, die im Werk von Daniel Göttin abzulesen ist, dann heisst sie: Der Raum als Raum steht im Zentrum. Und wenn es konzeptionelle Gesetzmässigkeiten gibt, dann etwa das Teil- oder Additionssystem, das auf Halbierungen (oder Verdoppelungen) beruht und dem Viertel und dem Achtel folgt. Ein anderes Beispiel: Die Objekte aus Betonrohguss erhalten ihre Form dadurch, dass jeweils eine andere Kante des Quaders im gleichen Winkel abgeflacht wird. Aus der Anzahl der Kanten ergibt sich folgerichtig auch die Anzahl der Objekte.

III. Der Raum als Raum steht im Zentrum: Das bedeutet, dass Daniel Göttins Werken immer Objektcharakter zukommt, dass also selbst die in der Fläche angelegten Werke in den Raum greifen, den Raum zeichnen und auszeichnen respektive akzentuieren. Dieser im Kern architektonische Charakter zeigt sich besonders deutlich in den Variationen der „Networks“, Liniennetze, die von Ferne an Werke von Brice Marden erinnernd könnten. Die Netze verändern durch die Linienwechsel die Raumwahrnehmung. Sie verändern den Raum, indem sie sich – und das ist hier kein Paradox – präzise auf den Raum beziehen. Genauer gesehen heisst das: Das Liniensystem verändert die Wahrnehmung eines Raumes und lässt uns manche seiner Qualitäten erst richtig wahrnehmen. Die „Netzwerke“ bewirken also, dass sich der Raum zu bewegen beginnt, oder sie bringen – metaphorisch gesprochen – den Raum zum Tanzen, nicht ekstatisch, sondern nüchtern und dennoch in einer Art und Weise, die sich nicht auf das rasch zu durchschauende und erkennbare, rein Logisch-Konzeptionelle reduzieren liesse.

Die einfachen Setzungen stellen also grundlegende Fragen (vielleicht eben deswegen, weil sie einfach sind). Grundlegend – und deswegen ihrerseits materialistisch – sind diese Fragen, weil sie darauf zielen, das alltägliche In-der-Welt-Sein zu akzentuieren, das ja darin besteht, dass wir uns immer in Räumen aufhalten, bewegen – ohne diese eigentlich bewusst wahrzunehmen.[4] Wie also bewegen wir uns in Räumen? In welcher Art nehmen wir sie wahr? Nur mit den Augen? Oder auch mit dem Körper? Mit der Zeit? Lässt sich ein Raum als ganzer wahrnehmen und erfahren? Wie konstituiert sich Raum? Ist Raum nur das Sichtbare, besteht er aus den Mauern, den Decken, dem Boden? Nur? Besteht Raum nicht eben doch vor allem aus den Leerräumen, also aus dem Nichts, das sich durch das materielle Etwas ergibt? Und: Bauen Architekten Hüllen oder Räume?


IV. Das führt zur Feststellung, dass im Werk von Daniel Göttin die Leerstellen zentral, ja geradezu konstituierend sind. Es sind jene Stellen, an denen der Künstler nichts tut – und damit das Minimum nochmals minimalisiert. Es sind die Flächen des unbearbeiteten Aluminiums, es sind in den Netzwerken jene Flächen, wo die bestehende Wand- oder Bodenstruktur weiterwirkt.

Und weil der Künstler das so zulässt, ergibt das eine wiederum das andere: Wenn er die Leerstellen aufgreift, um sie als Fragmente herauszulösen und zu materialisieren, entstehen die Formen der „Diamanten“, unregelmässige Vielecke, die nicht aus Berechnung und mathematisch ihre Form erhalten, sondern Resultat eines Arbeitsprozesses sind – sie ergeben sich, sind Ergebnis. Damit ist ebenfalls gesagt, dass jeder der „Diamanten“, so sehr sich diese auf den ersten Blick gleichen mögen, vollkommen anders ist.

Weil das Fragment immer schon auf das Ganze verweist, dieses jedoch umgekehrt wieder verweigert (das Ganze lässt sich aus dem Fragment nicht automatisch erschliessen), kann Daniel Göttin nicht nur mit den Fragmenten der Leerstellen, sondern auch mit Fragmenten der Liniengeflechte arbeiten, mit Kreuzungen, die Linien, Flächen und Raum erahnen lassen, diese aber nicht fix zu konstituieren vermögen.

Das Minimale lässt sich eben doch reduzieren. Das ist eine Aussage, die nach all dem bisher Formulierten widersprüchlich erscheinen mag, im Grunde jedoch vor allem auf eines hinweist: Die Kunst von Daniel Göttin ist durch und durch undogmatisch. Sie lässt Offenheit immer wieder zu, ja lebt von Offenheit. Offenheit hat hier noch zwei andere Konnotationen: jene der Neugierde und jene der Freude an Spiel und Experiment.

____________________

[1] Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt am Main 1984, S. 23f.
[2] Dass für diesen Minimalismus Donald Judd eine wichtige Bezugsgrösse ist, braucht kaum erwähnt zu werden (und wird von Daniel Göttin wie eine Selbstverständlichkeit ins Spiel gebracht).
[3] Wenn Daniel Göttin ein «Schwarzes Kreuz» macht, dann weiss er sehr wohl um den kunsthistorischen Bezug zu Malewitsch; aber dessen vergeistigte, «gegenstandslose Welt» wird hier ironisiert, weil das Kreuz bloss das herausgelöste Kreuzungsfragment einer grossen Wandzeichnung ist, das zum autonomen Gegenstand wird.
[4] Es ist ein interessantes Phänomen, dass die Architekturkritik im Allgemeinen eher ein Randphänomen ist, auch in den Medien (wenn es sich denn nicht um «Stararchitektur» handelt). Denn es ist die Architektur, die uns massgeblich in unserer alltäglichen Bewegung bestimmt, definiert, wo und wie wir gehen, wohin uns unsere Wege führen. Die Architektur, also die Raumbildung, ist der Körper, der unsere Körper massstäblich beeinflusst.