2018
Dr. Reinhard Ermen
Zeichen zur Zeit, Kunstforum 253, 2018

Daniel Göttin

Daniel Göttin zeichnet mit Klebeband. Mit einer englischen Vokabel lässt sich sofort mediale Selbstverständlichkeit herstellen: Tapedrawing. Das Band macht, gelegentlich ließe sich auch sagen, es ‚malt’ die Linien. Diese Zeichnung findet vornehmlich im Raum statt, das ist eine installative Kunst die sich allerdings nicht aufdrängt, manchmal ist sie auf den ersten Blick gar nicht zu sehen, so haben sich die Linien in situ eingefunden, als Akzentuierung von Raum und Tiefe. Es kommt zu „Annährungen“ oder „Frames“, wobei Göttin das Band gerne an gegebenen Wandvorsprüngen, konstruktiven Rippen oder einfach nur an den architektonischen Angelpunkten entlangführt. Dann wird aus der Unterstreichung des Gegebenen, bzw. Gebauten schon mal eine Verdeutlichung von proportionalen Mängeln, die mit dem linearen Eingriff irgendwie auch repariert wird; vorläufig, denn der installative Eingriff ist oft genug temporär. „Der Raum als Raum steht im Zentrum“, sagt Konrad Tobler. Trotz der mit dieser Einschätzung einhergehenden Absolutheit erscheint ein schmaler Grat zwischen angewandter und freier Kunst als ein spannungstragendes Moment. Göttin schafft auf den ihm zur Verfügung stehenden Wänden zuweilen freie, aber letztlich definierte Flächen, die dann andere bespielen. Er nimmt Zuweisungen vor, ja er schafft Displays, um einen modernen Allerweltsbegriff zu nutzen. Regiert er den Raum oder reagiert er auf den Raum? Der nur mit wenigen Strichen gefüllte Ort einer solchen Zuweisung, gibt sich gleichzeitig selbstbewusst autonom. „There must be an easy way“, sagt kurz vor seinem Tod Fred Sandback im Gespräch zu Daniel Göttin. Der Amerikaner trifft damit auch einen Kerngedanken des Schweizers. Es geht um unverstellte, essentielle Lösungen mit hohem Eigenwert. Und: Das Einfache ist schön! Seine linearen Interventionen haben dabei das Zeug zu selbstständigen Wandzeichnungen, die als starke Bilder auftreten, mit anmutigen Teilungen im Dialog mit den sprechenden Größenverhältnissen, die meistens nicht errechnet werden, sondern immer gefühlt, wenn man so will, intuitiv gezeichnet daherkommen.  

Neben den orthogonalen Arbeiten, die ihn seit seiner späten Zeit in der Akademie beschäftigen, gibt es seit 2000 die Networks, lineare Netzstrukturen aus Vierecken und Fünfecken, die so frei und windschief wuchern, wie sie sich ergeben. Auch sechseckige Zwischenglieder gibt es. Zu sehen ist ein großzügiges Krakelee, das Wände und ganze Räume füllt, sich gleichzeitig respektvoll an architektonischen und vom Künstler gesetzten Vorgaben orientiert. Die gelegentlich technisch-mathematische Anmutung, die den Betrachter auch mit dem Gefühl der Selbstverständlichkeit versorgen kann, täuscht. Den Computer braucht er primär zur Dokumentation seines Werks. Es herrscht freilich eine angeborene Präzision vor. Dass Göttin vor dem Kunststudium eine Ausbildung als technischer Zeichner genoss, ist durchaus spürbar. Diese Strukturen wachsen von einem gewählten Anfang ausgehend, sie werden in den Raum geschrieben. „Erst das, dann das, dann, das“, sagt (sinngemäß) Daniel Göttin. Kein Feld ist wie das andere, es gibt keinen Rapport, keine Linie läuft durch, an jedem Knotenpunkt ergibt sich ein Richtungswechsel und sei er noch so gering. Außerdem hinterlegt Göttin diese organischen Gebilde manchmal mit gegenläufig-gleichlaufenden, mit andersfarbigen Parallelnetzen, er verstärkt die Grundstruktur oder er durchschneidet die Zellen durch weitläufige Gitter. Diese Networks, von denen es mittlerweile 58 gibt, haben sich mit der Zeit zu einer Art Labor für das Formenrepertoire des Künstlers entwickelt. Ein immer wieder variiertes Kreuzobjekt verdankt sich den Knotenpunkten der Netze, aus den unregelmäßigen Feldern entwickeln sich dreidimensionale Körper, die auch schon mal aus den Wandzeichnungen herausragen. Der Bildhauer ist partiell Produkt dieser Netze und umgekehrt. Mit zur Konkretion dieser Arbeit, gehört der Einsatz von Farbe, Göttin malt nicht nur mit dem Klebeband, sondern immer mal wieder im traditionellen Sinne. Darüber hinaus arbeitet er gerne mit Rasenteppichfragmenten, die als heftige Farbstücke (nicht nur in Grün) auch ironische Akzente setzen.

Tapes in allen nur möglichen Erscheinungsweisen definieren und strukturieren die Handschrift des Daniel Göttin und seiner geraden wie krummen Wege. Neben den bevorzugten Textil- und Aluminiumklebebändern greift er häufig zu 5 cm breiten Transparentklebebändern, die er in den offenen Raum spannt, orthogonal geführt durch die gegebenen Orientierungs- und Haltepunkte. Das sind energische, auch empfindsame, letztlich aber eigenständige Architekturergänzungen, die auf ein bedachtsam erkundendes Publikum angewiesen sind. Wollte man in diesem besonderen Fall noch von Zeichnung reden, so könnte man von Luftlinien sprechen, die wie helle Schatten ihre präzisen Teilungen realisieren. 

Biografische Daten
Daniel Göttin
Geb. 1959, Basel, lebt in Basel. 1987 – 1990 SfG, Fachklasse für freies räumliches Gestalten Basel. 2013/2007 Youkobo Art Space, Tokyo: Artist Residency. 2012 Field Institute, Raketenstation Hombroich: Gastatelier. 1993 The Chinati Foundation, Marfa/TX: Artist Residency.
Einzel-/Doppelausstellungen (Auswahl):
2017 Jahresaussenprojekt: Shift and Slope, Kunsthaus Baselland, Muttenz; 2016 hier da dort, Galerie Wenger, Zürich; 2015 Double View, PS Project Space, Amsterdam; 2014 On Site, Conny Dietzschold Gallery, Sydney; 2012 Passage, Field Institute, Raketenstation Hombroich; 2010 Diamond Shapes, Gallery Terashita, Tokyo; 2001 The Go Between, Haus für konstruktive und konkrete Kunst, Zürich; 1998 Ort, Kunsthaus Baselland, Muttenz; 1993 Marfa/TX, Locker Plant, The Chinati Foundation.
Gruppenausstellungen (Auswahl):
2017 TonArt-TonWerk-DieZweite! Tonwerk Lausen: ROT-GELB-BLAU (mit Gerda Maise); 2016 Kunstraum Alexander Bürkle, Freiburg: Concept and Idea in Art: Werke aus der Sammlung Brokken Zijp Foundation of Art; 2016 Um die Ecke denken, Museum Haus Konstruktiv, Zürich; 2014 form follows form follows form, Kunsthalle Basel (R15); 2013 Maebashi: Suki-Mono-Tachi , Rinkou-Kaku; 2008 Network 43, Kunstverein Freiburg (R9); 2008 Minus Space, PS1, Long Island City/NY.